Heilig’s Plätzle

Wie der Sport die Seminare zusammenhält

von Julian Koepff (2006/11) - aus den Seminar-Nachrichten 2023

Die Sonne blendet beim Tritt ins Freie. Die Luft ist klar, ein kleiner Schauer Gänsehaut auf den Unterarmen, leichter Wind dringt durch das dünne Sportshirt. Egal, gleich wird’s warm! Pflastersteine unter den Sohlen und Vorfreude in der Brust, als es mit langen Schritten auf das Zauntor zugeht. Ein kleiner Stoß mit dem Fuß genügt, dann ist das Feld erreicht. Ab hier, hinter dem Tor, ist das Draußen weit weg. Der Stress in der Schule, die verhauene Klassenarbeit, vergessen. Die Welt – das ist der Platz. Wer schon da ist, ist in Bewegung, kämpft um den Ball oder versucht ihn zu sichern. Innehalten, eine freudige Begrüßung, kurze Teamaufteilung – alles wie immer? Dann los!

Nach dem Mittagessen auf’s Plätzle, für Generationen von Seminarist:innen eine Selbstverständlichkeit. Das Kicken war für viele ganz elementarer Bestandteil des Tagesablaufs. Wenn das Wetter es zulässt, braucht es nur die eine Person, die den Anstoß gibt und beim Mittagessen die Frage stellt: Wer kommt nachher mit aufs Plätzle?

Die integrative Kraft des Plätzles

Das Kicken verbindet und stiftet langfristige Freundschaften. Bester Beweis: Die erfolgreichsten Veranstaltungen, an den sich Ehemalige in den Seminaren treffen, sind Fußballveranstaltungen. Zum Plätzlesturnier in Maulbronn und zum 24-Stunden-Kick in Blaubeuren kommen jedes Jahr zahlreiche Ex-Semis in „ihre“ Seminare zurück. Neben dem Fußball pflegen sie dort vor allem den Kontakt zu vertrauten Bekannten und Freunden: Wie ist es Dir ergangen seit dem letzten Treffen? Wow, sind das Deine Kinder, die da neben dem Feld spielen? Die Plätzle, so könnte man meinen, halten die Seminarfamilie zusammen.

Internate auf der ganzen Welt nutzen diese integrative Kraft des Sports ganz gezielt, setzen bewusst auf Sportförderung, finanzieren teure Ausrüstung und das Training von Mannschaften, werben massiv mit unzähligen Sportangeboten, messen sich teilweise auf Spitzenniveau bei Ruder-, Segel- oder Hockeywettkämpfen. Zahlreiche Sportler:innen-Karrieren haben in Internaten begonnen.

Die Seminare dagegen haben andere Schwerpunkte: musikalisches Talent, Gespür für Sprachen und Interesse an theologischen Fragen stehen hier im Vordergrund und sollen gefördert werden. Dieses besondere Profil macht die Schulen einzigartig. Der Sport steht im Vergleich dazu etwas im Schatten.

Die Seminare als Pioniere des Sportunterrichts

Dabei waren die Seminare einst sportliche Vorreiter: Als erste Schulen Württembergs führten 1817 Maulbronn, Blaubeuren, Schöntal und Urach das Schulturnen ein. Auf Beschluss der Seminarleitung betrieben die Seminaristen „Übungen am Reck und Barren, im Gerwurf [Speerwurf], im Seitensprung und im Hochsprung unter Leitung eines Repetenten“. Der ehemalige Seminarist Friedrich Wilhelm Klumpp leistete ab 1821 als Lehrer in Stuttgart Pionierarbeit im Sportunterricht und wurde zum „Schwäbischen Turnvater“. Eigentlich folgerichtig, dass das Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg (IfSG) seinen Sitz im Klosterhof Maulbronn hat.

Natürlich war die Turnbegeisterung im Umfeld der Seminare vor zweihundert Jahren geprägt von „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852). Der propagierte in seiner „Deutschen Turnkunst“ Leibesübungen zur Stärkung von Körper und Moral, um ein wehrhaftes Volk zu schaffen. Im humanistisch-altsprachlichen Kontext der Seminare galt das Turnen gleichzeitig aber auch als Rückgriff auf die Traditionen der klassischen Antike. Und so legten die Seminaristen 1824 mit königlicher Erlaubnis auf eigene Kosten im Maulbronner Klosterhof einen ersten Turnplatz an, direkt vor dem Paradies – das erste Plätzle, eine der ersten Turnstätten in Württemberg überhaupt. Auch Hermann Hesse turnte hier.

„Der Sport spielt in unserem pädagogischen Konzept heute eine entscheidende Rolle!“

- Markus Mahler, Sportlehrer und Internatsbetreuer im Seminar Maulbronn

Und heute? „Der Sport spielt in unserem pädagogischen Konzept heute eine entscheidende Rolle“, erklärt Markus Mahler. Der 36-Jährige unterrichtet Sport und Mathematik und ist Internatsbetreuer am Seminar Maulbronn. Und nicht nur das: Seit vielen Jahren trainiert der passionierte Basketballer die Mühlacker Hightowers, die er bereits bis in die Landesliga geführt hat. Vor einigen Jahren habe man beim Freizeitangebot für die Seminarist:innen Entwicklungspotenzial erkannt. „Seitdem habe wir vor allem das Sport- Angebot deutlich ausgebaut.“

Mit Erfolg: Auch wenn der Sport kein dezidierter Schwerpunkt der Seminare ist – Maulbronn und Blaubeuren bieten sportbegeisterten Schüler:innen heute erstaunlich viele Möglichkeiten, sich zu entfalten. Das beginnt im Schulsport. Durch Nutzung der örtlichen Sporthallen und dank der Kooperation mit dem Salzach- bzw. dem Joachim-Hahn-Gymnasium sind zahlreiche Sportarten im Unterricht und ein Sport-Leistungskurs möglich. „Immer mehr Semis merken aber, dass Bewegung auch in der Freizeit guttut – und gehen etwa regelmäßig joggen“, bemerkt Mahler. An beiden Standorten haben die Semis zahlreiche Optionen, sich fit zu halten.

Seminar Blaubeuren

In Blaubeuren steht das Plätzle hinter der Klosterkirche grundsätzlich immer zur Verfügung, dank mobiler Flutlichtanlage mittlerweile auch bei Dunkelheit. Die Sport-AG montagabends trifft auf großen Zuspruch, wer will kann sich hier etwa bei Fußball oder Volleyball auspowern. Alternativ stehen die Zumba- und die Yoga-AG offen. Für Kraft- und Muskelaufbau wurde im nicht genutzten Fahrradkeller im Neubau ein Fitnessraum eingerichtet. Die Bäume neben dem Badhaus eignen sich hervorragend zum Slacklinen, auf dem Rasen neben dem Neubau lässt sich ein Volleyball-Netz spannen. Unter dem grandiosen Holzgewölbe des Dorments trainieren die 9er und 10er im Tanzkurs für den großen Abschlussball im Klosterkirchensaal. Nur 500 Meter vom Klosterhof liegt das Freibad, das Ried und die Wege hinauf auf die Alb bieten Jogging- und Radfahrstrecken aller Längen. Im Winter laufen im Umkreis von 25 Kilometern sechs Skilifte. Und hinter der Klosteranlage erheben sich Blaufels, Breitfels und Glasfels, mit ihren zahlreichen Kletterrouten in allen Schwierigkeitsklassen.

Überhaupt, das Klettern. Insgesamt dreißig Felsen im Blautal ziehen Klettertourist:innen aus aller Welt an. Eine ganze Generation von Seminarist:innen in Blaubeuren ließ sich vom Kletterfieber anstecken und trainierte noch Mitte der 2010er-Jahre die Fingermuskulatur am scharfkantigen Kalkstein der Ulmer Alb, ausgestattet von Schuhen bis zum Seil mit semi-eigener Kletterausrüstung. Spätestens seit der Verabschiedung von Ulrich Körner können die Seminarist:innen nicht mehr so einfach die Nachmittage am Fels verbringen. Rechtliche Veränderungen und ein in die Jahre gekommenes Kletter-Magazin erschweren die Wiederaufnahme, dafür gibt es Klettertouren in Kooperation mit dem Joachim-Hahn-Gymnasium. Doch wer weiß, vielleicht lässt sich ein weiterer ungenutzter Raum im Neubau-Keller zur Boulder-Höhle umbauen?

Seminar Maulbronn

Auch Maulbronn hat das Klettern entdeckt. Angeleitet von eigens ausgebildeten Lehrern lernen die „Neuen“ der Klasse 9 an der Kletterwand füreinander Verantwortung zu übernehmen. „Der Sport hilft, dass die Promotion als Gruppe zusammenwächst“, ist Markus Mahler überzeugt. Das gegenseitige Sichern oder der gemeinsame wilde Ritt beim Raften während der erlebnispädagogischen Woche wirken als Katalysator, damit Vertrauen zu den Kompromotionalen entsteht.

Geschützt von den Mauern des Klostergrabens bietet das Plätzle in Maulbronn zwei frisch renovierte Hartplätze für Fußball, Volleyball, Basketball und viele weitere Sportarten. Kaum bricht die Sonne hervor, rollen hier die Bälle, wochenends natürlich für die selbstorganisierte Semi-Liga. Direkt dahinter steht schwimmbegeisterten Jugendlichen seit 1898 der Tiefe See als Badesee zur Verfügung, auch wenn Semis vermutlich schon vorher darin geschwommen sind. Eine Calisthenics-Anlage und ein Kraftraum im Laiendorment ergänzen den Sportpark des Seminars. Sehr beliebt ist die Tischtennis-Anlage in der Mühle. In der Sport-AG motivieren sich die Semis gegenseitig und probieren verschiedene Sportarten aus, eine Streetball-Mannschaft soll bei Jugend trainiert für Olympia angemeldet werden. Und beim Volleyball-Turnier im Frühjahr wetteifern die Semis gemeinsam mit Schüler:innen um den Pokal.

Sport ist essenzieller Ausgleich im Internatsleben – und schafft Verbundenheit fürs Leben

Es stimmt schon: Die Wenigsten werden vermutlich des Sports wegen zum Semi. Aber wie vielen mag der Sport geholfen haben, Semi zu bleiben? In den manchmal engen Wohnverhältnissen und bei dem permanenten engen Kontakt zu den Kompromotionalen kann die Jogging-Strecke, der Sprung in den Tiefen See oder die Klettertour am Blaufels den Kopf freimachen und stellt den notwendigen Abstand zum Seminar-Alltag her. Rennen, bis die Kraft ausgeht, sich auspowern und Dampf ablassen, das ist ein notwendiger Ausgleich für die eher kopflastigen Tätigkeiten, denen sich die Seminare verschrieben haben.

Ausreichende Möglichkeiten, Sport zu treiben, sei es gemeinsam oder alleine, sind insofern mitentscheidend für ein funktionierendes Zusammenleben in Seminar. Die Lage der Schulen, Investitionen in gute Anlagen, entsprechende Deputate und viel ehrenamtliches Engagement der Lehrer:innen ermöglichen ein breites Sport-Angebot, mit dem die Seminare sich nicht zu verstecken brauchen. Gleichzeitig liegt es an den Semis selbst, diese Angebote wahrzunehmen und die ausgleichende, Gemeinschaft bildende Kraft des Sports für sich zu nutzen, sei es im organisierten Rahmen oder eigeninitiativ. Einigen werden grade die gemeinsamen Stunden auf dem Plätzle später am eindrücklichsten von ihrer Semi-Zeit in Erinnerung bleiben.

In diesem Sinne: Herzliche Einladung auf die Plätzle in Maulbronn und Blaubeuren – zum Freunde treffen und den Kopf frei bekommen! Gelegenheit gibt’s mehrfach, zum Beispiel beim 24-Stunden-Kick am 8./9. Juni in Blaubeuren und beim Plätzlesturnier am 20. Juli in Maulbronn. Seit 2023 gibt es auch wieder ein Plätzlesturnier in Blaubeuren, das nun jährlich am ersten Samstag des Schuljahrs organisiert werden soll, das nächste am 14. September. Seid dabei!